Kommentar

Kommentar: Warum Erfolge nichts mit Titeln zu tun haben

Jens Lehmann tätigte zum medial herbeigeredeten Wechsel Ralf Rangnicks zu den Bayern kürzlich eine spannende Aussage. Rangnick wäre laut dem ehemaligen zweiten Torhüter der deutschen Nationalmannschaft nicht für die Münchner infrage gekommen, da er (Rangnick) noch nie in seinem Leben etwas gewonnen hätte.

Dass ein ehemaliger Profi-Sportler Qualität nur an Medaillen misst, verwundert, um es in angemessenem Ton zu formulieren. Wer Leistung im Fußball nur nach Trophäen bewertet, macht am Ende nichts anderes, als sich völlig verständnislos und unsportlich daran zu „erblöden“, großartige Leistungen zu schmälern und schlussendlich nicht einmal anzuerkennen. Nach einer solchen Bewertungsgrundlage wäre nämlich Christian Streich ein absoluter Loser-Trainer und Francesco Totti ein Durchschnittskicker gewesen, der an nationalen Titeln sogar von Kevin Großkreutz übertrumpft wurde. Jeder, der auch nur einen Hauch von Fußball versteht, wird merken, dass man anhand eines solchen Prinzips keine faire Leistungsbewertung zustande bringt.

In Wahrheit und in so manchen Konstellationen sind titellose Erfolge oftmals sogar höher einzustufen, als gewonnene Trophäen. Es wird wenige geben, die verzweifelt nach Antworten ringen, würde man sie fragen, wie Pep Guardiola es nur geschafft hat, mit dem damaligen Godstyle-Barca das Triple zu holen. Scherzhaft meint so mancher Fan, dass dies auch der Greenkeeper zustande gebracht hätte. Aber würde man fragen, wie es Eric Roy geschafft hat, Stade Brest auf Platz drei der Ligue 1 zu führen, obwohl man mit einem Budget von 48 Millionen Euro den viertniedrigsten Etat der Liga hat, blieben einige Fragezeichen wohl stehen.

In Fußballeuropa werden gerade mehrere Sternstunden geschrieben, die zwar (zum Teil) titellos enden, aber dennoch als ungleich herausragende Leistungen zu feiern sind. Was man beispielsweise schon seit Jahren in Bergamo zusammenzaubert, lässt wohl jedem Fußball-Liebhaber die Kinnlade zu Boden knallen. In der Saison 2019/20 spielte sich Atalanta bis ins Viertelfinale der Champions League, 2020/21 scheiterte man nur knapp an Real Madrid im Achtelfinale, 2021/22 stieg man nach der Gruppenphase in die Europa League um, wo es bis zum Viertelfinale reichte. In der Serie A wurde man 2020 und 2021 jeweils Dritter. Jetzt steht die Elf von Dirigent und Erfolgsmacher Gian Piero Gasperini im Finale des italienischen Pokals und nach einem furiosen Auftritt gegen Marseille im Endspiel der Europa League. Dazu eine Bemerkung am Rande: Die Stadt Bergamo hat weniger Einwohner als Linz oder Salzburg und spielt in einem Stadion, das etwas mehr als 20.000 Besuchern Platz bietet. Wohl kaum ein Titel, den ein Milliarden-Projekt wie Manchester City oder PSG erzwingt, kann in der Wertigkeit solcher Ausnahmeerfolge mithalten.

Ein Blick weiter westlich lenkt den Fokus unverzüglich auf Girona, die vom zweiten Platz der Primera Division lachen und Barca kürzlich ein sensationelles 4:2 eingeschenkt haben. 2022 stieg der Verein erst aus der zweiten Liga auf, landete in der Folgesaison auf Rang zehn und mischt jetzt mit den zweitmeisten geschossenen Toren und einem vergleichsweise geringem Saisonbudget von 60 Millionen Euro die spanische Liga auf. Zum Vergleich: Bloß die Gesamtbruttogehälter von Atletico Madrid sollen in der Saison 2023/24 schon etwa 150 Millionen Euro betragen.

Leistungen im Fußball müssen also auch immer in Relation zu den Möglichkeiten gemessen und entsprechend gewürdigt werden. Was die Eingangsaussage zu Ralf Rangnick betrifft, so hat dieser den Fußball in seiner taktischen Auslegung und Philosophie nachhaltig revolutioniert und eine Spielweise geformt und geprägt, die diese Sportart in vielen positiven Facetten verändert hat. Und langfristig gesehen ist dies wohl ein wesentlich größerer Erfolg, als es ein 34. Meistertitel oder ein 21. Pokalsieg beim FC Bayern je hätte sein können.

Markus Keimel, 12termann.at