EM-Qualifikation / Österreich vs Russland – Naim Scharifi-Interview
„In Russland wird zu viel geschimpft“
In der aktuellen Ausgabe des ballesterer spricht Reinhard Krennhuber mit Naim Scharifi über die WM-Pleite von Russland und die russische Nationalmannschaft. Wir dürfen euch den Text aus dem 96. ballesterer-Magazin freundlicherweise online präsentieren – viel Spaß beim Lesen (der neue ballesterer ist übrigens am 13.11.2014 erschienen).
Naim Scharifi ist einer von wenigen russischen Profis im Ausland. Vor dem EM-Qualifikationsspiel Österreichs gegen das Team von Fabio Capello spricht der Verteidiger des SK Sturm über Russlands WM-Pleite und die Millionengage des Startrainers.
Das Glück war nicht auf seiner Seite. Gleich in seinem ersten Bundesliga-Spiel für Sturm zog sich Naim Scharifi am 27. Juli einen Kreuzbandriss zu, der ihn zu einer sechsmonatigen Zwangspause verdammt. Der ballesterer erreichte den 22-jährigen Russen während der Reha.
ballesterer: Die WM in Brasilien ist für Russland enttäuschend verlaufen. Worin sehen Sie die Gründe, dass sich das Team nicht fürs Achtelfinale qualifizieren konnte?
Naim Scharifi: Die Auslosung war eigentlich perfekt, eine der leichtesten Gruppen. Wir hatten es nicht mit Kalibern wie Deutschland, Brasilien und Argentinien zu tun. Nach dem Ausscheiden war die Enttäuschung riesengroß. Die Experten in Russland haben die Fehler von Tormann Igor Akinfejew und der Verteidigung dafür verantwortlich gemacht und beklagt, dass wir nur zwei Tore geschossen haben. Ich glaube, es war ein psychologisches Problem. Die Spieler sind mehr gelaufen als ihre Gegner, mit der Fitness kann es also nichts zu tun haben. Wir hatten viele junge Leute im Kader, die noch kein großes Turnier gespielt haben. Und die Erfahrenen haben leider gepatzt.
Als WM-Beobachter hatte man den Eindruck, dass es sich um ein starkes Kollektiv ohne herausragende Spieler handelt. Teilen Sie diese Einschätzung?
Im Moment gibt es keine Führungsspieler, wie Andrej Arschawin und Roman Pawljutschenko es waren. Akinfejew könnte diese Rolle einnehmen, aber ein Tormann tut sich da schwerer. Ich kenne die Mannschaft und habe Freunde im Team, aber ich sehe im Moment niemanden, der dazu in der Lage wäre. Der russische Fußball macht gerade schwierige Zeiten durch.
Was meinen Sie damit?
Es spielen faktisch keine russischen Spieler in Europa. Und die meisten haben auch gar kein Interesse an einem Transfer ins Ausland. Die Verträge in der russischen Liga sind hochdotiert, selbst 17- oder 18-Jährige werden mit Geld zugeschüttet, obwohl sie noch nichts geleistet haben. Ich muss mich in Graz Tag für Tag beweisen. Bei einem russischen Klub wird es hingegen keine Konsequenzen geben, wenn du zwei Wochen nicht spielst. Zusätzlich haben wir das Problem, dass viele Vereine ihr Geld lieber in ausländische Spieler als in den Nachwuchs investieren. Es gibt zwar ein paar gute Akademien wie bei Spartak und Lok Moskau, aber das ist zu wenig für ein Land mit 140 Millionen Einwohnern.
Hat die Mannschaft nach dem frühen WM-Out einen Knacks?
Ich glaube nicht, dass sie gebrochen sind. Capello hat einige Neue wie Artjom Dsjuba von Spartak Moskau ausprobiert, der eine sehr gute Saison spielt und auch gegen Liechtenstein getroffen hat. Ein Problem sehe ich in der überkritischen Öffentlichkeit. Es wird sehr viel geschimpft. Immer, wenn ich mich im Internet informiere, lese ich Kritik an der Mannschaft – teilweise unter der Gürtellinie. Das kann auf die Spieler abfärben.
Was sind die Ziele für die EM-Qualifikation?
Man erwartet sich einen Dreikampf um den Gruppensieg mit Schweden und Österreich, wobei viele mit dem ersten Platz rechnen. Davon kann man aber nicht ausgehen, obwohl wir uns als Gruppensieger für die WM qualifiziert haben. Wir haben weder bei der letzten EM noch in Brasilien die Gruppe überstanden. Und auch die Vereine haben sich international zuletzt nicht mit Ruhm bekleckert. Ich sehe daher keinen Grund für Überheblichkeit. Schweden und Österreich sind sehr gefährliche Gegner, das weiß ich auch aus eigener Erfahrung. Montenegro hat zwar ein paar exzellente Spieler, ich schätze sie aber nicht so stark ein.
Fabio Capello hat nach der WM gesagt, er habe bisher gute Arbeit geleistet. Sehen Sie das auch so?
Er hat das bei einem Termin mit der Verbandsspitze gesagt, als er sich für die Leistung bei der WM rechtfertigen musste. Es war eine Antwort auf die Kritik an seiner Person. Ich denke, er hat sich nicht viel vorzuwerfen. Capello hat Russland zum ersten Mal nach zwölf Jahren wieder zur WM geführt. Die Kaderauswahl war okay, die Taktik auch. Wenn einzelne Spieler Fehler machen, kann man das nicht dem Trainer vorwerfen.
Was sagen Sie zum Vorwurf der Zeitung „Sowjetski Sport“, Capello sei altmodisch?
Ich kann das nicht nachvollziehen. Seine Erfolge sprechen für sich, er ist engagiert und hat auch ein Konzept zur Förderung von Talenten ausgearbeitet. Ich sehe keinen russischen Trainer, der ihm das Wasser reichen könnte.
Capello soll acht bis neun Millionen Euro pro Jahr verdienen. Ist das zu rechtfertigen?
Das ist natürlich ein Problem, weil der Verband mit öffentlichem Geld finanziert wird. Auf der anderen Seite weiß Capello ganz genau, wie viel er verlangen kann. Und um zwei Millionen pro Jahr hätte er den Job nicht gemacht. Er musste nach Moskau ziehen und fliegt jede Woche tausende Kilometer, um die Spieler zu beobachten.
Die politischen Beziehungen Russlands zur EU haben stark unter dem Krieg in der Ukraine gelitten. Inwiefern wirkt sich das auf den Fußball aus?
Die Bevölkerung spürt die Sanktionen. Meine Freunde in Moskau können bestimmte Produkte aus Österreich nicht mehr kaufen. Auf den Fußball hat das aber keinen Einfluss. Das ist ein Problem zwischen Putin, Merkel und Obama. Für mich als Russe, der in Österreich Fußball spielt, hat sich nichts geändert.
Zur Person:
Naim Scharifi (22) hat die Nachwuchsschule von Lok Moskau durchlaufen. 2010 wechselte er zum Kapfenberger SV, zu dem er nach einem einjährigen Gastspiel bei Amkar Perm 2013 zurückkehrte. Im Sommer 2014 unterschrieb der rechte Verteidiger einen Zwei-Jahres-Vertrag beim SK Sturm.
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(Reinhard Krennhuber, editiert von Martin Hanebeck)