Österreich bei der EM: Wie man Positives aus der Personallage schöpfen kann
Die Europameisterschaft 2024 ist zum Greifen nahe und obwohl die Vorfreude aus österreichischer Sicht uneingeschränkt groß sein sollte, so gibt es trotz großartiger Vorbereitungsspielen bedauerlicherweise dennoch nach und nach eine ordentliche „Euphorie-Watschn“ zu verdauen.
Viele zuckten bereits bei der Auslosung zusammen, als man mit Frankreich einen der Titelfavoriten und mit Niederlande wohl den undankbarsten Gegner aus dem dritten Lostopf aufgebrummt bekommen hat. Danach begann der Verletzungsteufel zu wüten und zuletzt wollte man uns sogar noch den Teamchef abspenstig machen. Mittlerweile hat sich die Aufregung gelegt: Mit der Auslosung hat man zu leben gelernt, Rangnick bleibt glücklicherweise Teamchef, lediglich die Verletztenliste will nicht kürzer werden.
Eine Pech-Lawine und Dauerbelastungen
Im Dezember 2023 trat ausgerechnet Kapitän, Spielereröffner und Galionsfigur David Alaba eine Pech-Lawine ins Rollen, als er sich beim Spiel gegen Villarreal einen Kreuzbandriss zuzog. Eine Lawine, die sich schneller voranbewegte, als unsere Spieler laufen können. Denn nach Sasa Kalajdzic haben sich zuletzt auch Mittelfeldmotor Xaver Schlager, sowie Torhüter Alexander Schlager jener Spielergruppe angeschlossen, die für die EM de facto ausfallen.
Vier Startelf-Spieler, von denen mit Alaba, Kalajdzic und Xaver Schlager gleich einmal drei im 1:1 kaum zu ersetzen sind. Das trifft Österreich hart, besonders im Gegensatz zu größeren Nationen mit weitaus breiteren Kadern. Damit nicht genug, laborieren mit Lienhart (Knieprobleme), Danso (Adduktorenprobleme) und Wöber (Muskelfaserriss) gleich noch drei weitere Stammsäulen an Verletzungen, die eine EM-Teilnahme gefährden oder zumindest dafür sorgen könnten, dass die jeweiligen Spieler an Tag X nicht bei den erforderlichen hundert Prozent agieren.
Mit Laimer, Posch und Sabitzer laufen außerdem noch weitere unverzichtbare Leistungsträger auf Dauerbelastung und fehlten ihren Clubs in jüngster Vergangenheit wegen des einen oder anderen Wehwehchens. Bei allem Optimismus, den man aufbringen kann, sind dies trotzdem personalbezogene Vorzeichen, die einem regelrecht den Magen verderben.
Die Kehrseite der Medaille
Zumindest auf den ersten Blick. Betrachtet man die Situation nämlich aus einer etwas anderen Perspektive, so ist es tatsächlich auch möglich, der Misslage etwas Positives und Konstruktives abzugewinnen. Anstoß dieser Betrachtungsweise lieferte der Podcast von Ex-Teamspieler Florian Klein, der kürzlich seine ehemaligen Mitstreiter Martin Harnik, Sebastian Prödl und Zlatko Junuzovic zu einem EM-Gespräch versammelte.
Als Hauptursache des Scheiterns bei der EURO 2016 nannten sie nämlich den fehlenden Konkurrenzkampf innerhalb der Mannschaft und jene Gewissheit, dass jeder Stammspieler bereits im Vorfeld sicher sein konnte, in der Startelf zu stehen, ganz unabhängig davon, wie es um seine aktuelle Spielpraxis, Leistungskurve und Verfassung stand. Der fehlende Konkurrenzkampf, zum einen der Kaderbreite geschuldet, zum anderen dem sturen Festhalten Kollers hinsichtlich Plan A und Startelf, sorgte dafür, dass sich die Spieler in der Vorbereitung eher schonten und regelrecht leichtsinnig wurden.
Zlatko Junuzovic meinte, dass sich die A-Garnitur-Spieler regelrecht selbst belogen hätten, mit dem Glauben, an Tag X schon irgendwie voll da zu sein, obgleich man in der Vorbereitung einen Gang zurückschaltete und als Profi eigentlich die Weitsicht besitzt, dass das nicht umsetzbar ist. Ähnlich die rückblickende Analyse von Martin Harnik, der dies als Grund sah, warum er im ersten Spiel völlig neben sich stand. Hätte er um einen Startplatz kämpfen müssen, so wäre der Biss in der Vorbereitung laut Harnik ein ganz anderer gewesen. Was hat das nun mit der Situation von heute zu tun?
Helden aus der zweiten Reihe?
Zwar hat Rangnick immer wieder rotiert – auch um zu zeigen, dass Leistung belohnt wird – und auch stets Plan A, B, C parat gehabt, aber das Wegfallen wichtiger Stammkräfte und auch die Ungewissheit, wer körperlich am Ende topfit ist, entfacht einen neuen Konkurrenzkampf, belebt eine neue Hierarchie und ebnet plötzlich Möglichkeiten für Spieler, die sich ansonsten vermutlich nicht beweisen hätten können. Das ist ein fruchtbarer Nährboden für jeden Teil des Kaders, der dazu motiviert, über seine Grenzen zu gehen und weit über seine Möglichkeiten hinaus zu wachsen. Wenn dies gelingt, könnte sich aus den neuen Mannschaftsteilen eine völlig homogene Mannschaft bilden, die in sich noch geschlossener agiert. Und das wird es für den Auftakt auch brauchen.
Mit dem Rücken zur Wand zu Sensationen
Frankreich sieht sich gegen Österreich im ersten Gruppenspiel als haushoher Favorit. Niemand geht bei den Les Bleus von weniger als drei Zählern aus. Doch viele Spieler Frankreichs sind launenhaft und neigen dazu, divenhaft zu agieren, wenn ihnen das Zaubern nicht gelingt. Je länger man es schaffen wird, den Franzosen mit Aggressivität die Schneid abzukaufen, desto unruhiger werden sie in ihrem Spiel, aber auch in ihrer mentalen Verfassung werden. Und gerade die Mentalität, der unbändige Wille sollte mittlerweile eine wichtige Grundsäule der österreichischen Stärken sein.
Gerade also die große Verletztenliste könnte jener entscheidende Grund sein, warum Frankreich das Nationalteam noch mehr unterschätzen, Österreich hingegen noch enger zusammenrückt und noch verbissener und energischer in dieses Turnier gehen wird. Deshalb sei die gewagte, optimistische und hoffnungsvolle Prognose erlaubt: Österreich kann Frankreich trotz und gerade wegen der Ausfälle überraschen und das Land bereits zum Auftakt mit einer Welle von Euphorie fluten.
Markus Keimel, 12termann.at